Nationalratspräsident Martin Candinas: «Humor gehört auch zur Politik»

Zurück zur Übersicht

Bis am 4. Dezember 2023 ist er noch der höchste Schweizer. Beim Besuch auf der BGV-Geschäftsstelle schaut Martin Candinas auf seinen Einstieg in die Politik zurück, verrät sein Erfolgsgeheimnis, und er wird in diesem Jahr weniger Weihnachtskarten schreiben. Für Candinas hat der politische Betrieb zahlreiche parallelen mit der Wirtschaft und dem Sport.

rw. Ich mag Menschen. Ihre Anliegen und Wünsche, Sorgen und Ängste sind für mich täglicher Ansporn für meine Arbeit. So beschreibt sich Martin Candinas auf seiner Website. Entsprechend lebt die Frohnatur aus der Surselva. Der 43-jährige Rabiuser, der mit seiner Familie in Chur lebt, ist ausgebildeter Sozialversicherungsfachmann. In diesem Jahr dreht sich aber alles um Politik. Noch bis am 4. Dezember ist er als Nationalratspräsident im Amt. Für ihn ist das «eine Ehre und eine Verpflichtung». Als Candinas auf der BGV-Geschäftsstelle zu Besuch kommt, tut er das gut gelaunt. Politik ist für ihn mehr als Abstimmungen und Tagesschau, für ihn ist es Leidenschaft mit Gleichgesinnten und Andersgesinnten zu diskutieren und etwas zu erreichen.

Politik als Vereinsleben
Candinas besuchte die Kantonsschule und begann sich zu interessieren, was im Kanton am Laufen war. Gleichzeitig waren die Jungparteien im Aufwind. «Ich habe mich für die CVP entschieden. Heute bin ich überzeugt, dass ich am richtigen Ort bin», sagt Candinas. 2003 kam er als Stellvertreter in den Grossen Rat, drei Jahre später, mit 26 Jahren, war er der jüngste Grossrat in Graubünden. Bereits 1999 stellte er sich für seine erste Nationalratswahl auf. Damals erhielt er 700 Stimmen. 2011 wurde er mit 14 330 Stimmen in den Nationalrat gewählt. «Erstmals richtig in die Politik eingestiegen bin ich, nachdem wir 2001 die Junge CVP Surselva gegründet hatten», die er später mit Freude und Engagement als Präsident führte. Candinas vergleicht seine damalige politische Arbeit mit dem Vereinsleben. «Man muss eine gute Gruppe sein, zusammen Spass haben und sich gemeinsam mit Leidenschaft für eine gemeinsame Sache engagieren können.»

Nachtbus und Porta Alpina
«Das grösste Problem von uns Jugendlichen in der Surselva war, dass es keinen Nachtbus gab.» Nachdem der Nachtbus eingeführt wurde, war die Porta Alpina sein nächstes Projekt. Unterschriften wurden gesammelt, an einer kantonalen Volksabstimmung wurde dem Kredit mit über 70 Prozent zugestimmt, im Bundeshaus wurde darüber debattiert. Schlussendlich ist die Porta Alpina noch immer nicht realisiert. «Am Anfang wurden wir fast ausgelacht. Wir konnten aber etwas bewegen.» Nachtbus und Porta Alpina waren für sein politischer Werdegang zentral. «Ich habe gemerkt, dass man, wenn man sich für etwas einsetzt und hartnäckig ist, erhört wird und etwas erreichen kann.» Sein Erfolgsgeheimnis klingt einfach. «Reklamiert nicht, macht einfach. Setzt euch ein, habt gute Ideen und seit hartnäckig. In der Politik, in der Wirtschaft, im Sport.» Es brauche immer das Gleiche, um Erfolg zu haben. Das Wichtigste sei aber die Freude.
Auch in anderen Bereichen sieht er Parallelen zur Wirtschaft. Unternehmen sind einerseits Konkurrenten und sitzen trotzdem im gleichen Boot, arbeiten beispielsweise im Branchenverband zusammen. Politiker und Parteien stehen auch in Konkurrenz zueinander und müssen trotzdem zusammen Lösungen finden. «Konkurrenz belebt das Geschäft», sagt Candinas und lacht, und weiter erzählt er, dass Freunde und Feinde sich auch in Bundesbern nicht an die Parteigrenzen halten. Es menschele halt überall. Betreffend Zukunft mache er sich mit 43 Jahren natürlich Gedanken. «Ich bin aus der Wirtschaft gekommen und habe mich dort immer wohlgefühlt. Darum werde ich irgendwann wohl auch wieder dort landen», so Candinas.

Der Weg zum Nationalratspräsidium
«Als ich nach Bern kam, hatte ich keine Ahnung. Das Bundeshaus war mir fremd. Es war wie in einem Labyrinth», erzählt er. Candinas lernte, fand sich schnell zurecht, machte Erfahrungen – und sich bemerkbar. «Wichtiger als die Wahl in den Nationalrat war für mich die Wiederwahl. Sie zeigte mir, dass die Stimmbevölkerung mich nach Bern schicken wollte und es nicht nur ein Zufallsentscheid war.» Denn der ersten Wahl war ein harter innerparteilicher Wahlkampf vorausgegangen. Politiker/innen wissen es. Die grössten Konkurrenten sind meistens innerhalb der Partei zu finden. Seinen eingeschlagenen Weg hat er bis heute nie bereut. «Dann hätte ich sofort mit der Politik aufgehört. So habe ich es immer gemacht. Wenn ich etwas mache, mache ich es richtig. Sonst lasse ich es sein. Als ich nach der Matura keine Lust auf Schule hatte, ging ich arbeiten und schaffte mich bei der Krankenversicherung zum Filialleiter hoch.»

Nun dürfe er als Nationalratspräsident noch einige Wochen die schönste Arbeit wahrnehmen, die er sich vorstellen kann. «Ich bin unendlich dankbar, dass ich dies erleben darf. Es ist eine intensive Zeit mit sehr viel schönen und spannenden Begegnungen.» Der Vater von drei Kindern freut sich aber auch auf mehr Zeit mit seiner Familie, die zuletzt oft zu kurz kam. Als Nationalratspräsident führt Candinas den Nationalrat und muss sich politisch sehr zurückhalten. Dass er in diesem Jahr in der Öffentlichkeit nicht sagen darf, was er denkt, an das habe er sich gewöhnt. «Ich habe sehr viel zu tun und bin keinesfalls unterbeschäftigt. Darum fällt es mir nicht allzu schwer, mich nicht zu konkreten Themen äussern zu können.» Er freue sich aber auch, wieder selbst im Rat seine Haltung kundzutun. Er sagt das und lacht. Er hat in der Stunde zuvor viel gelacht. Der Kaffee ist nun aber leer, und die vereinbarte Zeit ist abgelaufen. Candinas verabschiedet sich. Er komme gerne wieder einmal auf der BGV-Geschäftsstelle vorbei, dann als Nationalrat. Dann will er sich für die Anliegen des Bündner Gewerbes in Bern einbringen, das ist sein Versprechen.

Fünf Fragen an Martin Candinas

Warum wurden Sie zum Präsidenten des Nationalrats gewählt?
Die Parteien erhalten im Turnus das Präsidium zugeteilt. Die wichtigste Hürde ist daher von der Partei nominiert zu werden. Die Nomination zum 2. Vizepräsidenten des Nationalrats war die wichtige Wahl. Es waren verschiedene Faktoren, die mitgespielt haben. Glück ist immer ein Teilfaktor im Leben, so auch in der Politik. Innerhalb der Partei habe er sich wohl auch deshalb durchsetzen können, weil er zehn Jahre im Parteipräsidium engagiert war und weil er bisher hinten angestanden sei für andere Ämter, welche die Partei vergeben kann.

In einem Wahljahr 200 Parlamentarier im Zaum zu halten, das dürfte nicht immer einfach sein. Was war das Schwierigste bisher?
Am meisten gefordert war ich bei der ausserordentlichen Session zur Credit Suisse. Es waren viele Emotionen im Spiel und die Debatte ging in die Nacht hinein. Das machte die Situation nicht einfach, weil die Leute müde wurden. Man muss als Präsident trotzdem alles im Griff behalten. Als Nationalratspräsident stimmt man nur ab, wenn es einen Stichentscheid braucht. Bei einem heiklen politischen Geschäft hatte ich aber plötzlich Herzrasen, ich hätte den Stichentscheid gegen meine Partei gegeben. Zum Glück ging die Abstimmung mit 96 zu 94 Stimmen aus.

Wann regen Sie sich im Bern am meisten auf?
Wenn es heisst etwas geht nicht. Ich bin lösungsorientiert unterwegs. Daher bin ich in der Politik, um Lösungen für Probleme zu finden. Mich interessiert nicht was nicht geht, sondern was geht. Immer wieder vertreten die Bundesämter die Haltung, das geht aus diesem und jenem Grund nicht. Das Parlament entscheidet die grossen Linien und die Verwaltung soll dann Möglichkeiten aufzeigen, wie etwas umgesetzt werden kann. In einem Unternehmen kann man nicht die ganze Energie verschwenden für die Sachen, die nicht gehen. Man muss produktiv sein und sich auf die möglichen Lösungen fokussieren.

Was sagen Sie zur Raumplanung und zur Wohnungsnot?
Ausnahmsweise werde ich also politisch. Die Raumplanung muss wieder föderaler organisiert werden. Die Kantone brauchen mehr Spielraum. Sie kennen am besten die Bedürfnisse der Bevölkerung. Den Wohnungsmangel ist eine Realität. Wir brauchen mehr Wohnraum, weil wir wachsen. Wir brauchen immer mehr Wohnraum, weil wir uns dies leisten können. Dies kann man nur lösen, indem man mehr baut. Ich bin ein grosser Verfechter des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Da haben wir noch viel Potential. Damit können wir auch vernünftige Mieten sicherstellen.

Was sind die wichtigen Eigenschaften die man als Politiker haben muss?
Als Politiker bis du am Schluss auf dich allein gestellt. Dies ist wie bei einem Unternehmer. Du trägst die Verantwortung für deine Entscheidungen und musst dazu stehen. Du hast zwar viele Freiheiten, musst aber Mut beweisen und dich engagieren. Als Angestellter hast du ein gesicherteres Leben, als Selbständiger oder Unternehmer, bin ich mein eigener Chef, habe auch entsprechende Risiken.

zurück zur Übersicht