Über die Berufswahl, Schnupperlehre und Lehrverträge

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Interview mit Curdin Tuor, Leiter des Amts für Berufsbildung

Mit dem Lehrplan 21 wurde die Berufswahl in der Oberstufe gestärkt. In der zweiten Oberstufe haben die Schüler/ innen eine Unterrichtslektion im Fach «Berufliche Orientierung». Dabei stehen das Erkunden, Schnuppern und die Wahl des Berufes sowie des Ausbildungsbetriebes im Vordergrund. In der dritten Oberstufe können die Schüler/innen sich auf den gewählten Beruf in der Unterrichtseinheit «Individualisierung» vorbereiten.

Bl. Die Lehrverträge selber sollen daher erst im 9. Schuljahr abgeschlossen werden, damit der Berufswahl- und Rekrutierungsprozess aufeinander abgestimmt werden können. Offene Lehrstellen sollen künftig frühestens im August des Jahres vor Lehrbeginn zur Bewerbung ausgeschrieben und Lehrverträge frühestens ein Jahr vor Lehrbeginn abgeschlossen werden. Zudem werden die kantonalen Berufsbildungsämter die Lehrverträge frühestens im September des Jahres vor Lehrbeginn genehmigen. Darauf haben sich die Verbundpartner der Berufsbildung am 10. November 2021 geeinigt. Der BGV unterstützt dieses Vorgehen ausdrücklich. Den Betrieben ist es am besten gedient, wenn sie Lernende anstellen, welche am besten zum jeweiligen Beruf passen.

Bündner Gewerbe: Früher ging man während der Schulzeit zum Berufsberater und an zwei, drei Orten schnuppern, bevor man den Lehrvertrag unterschrieb. Wie sieht die Berufswahl heute aus?

Curdin Tuor: Die Berufswahl ist heute, auch dank der Einführung des Lehrplans 21 auf Volksschulstufe mit dem Fach «berufliche Orientierung» in der zweiten Klasse der Sekundarstufe I und dem Zeitgefäss «Individualisierung», explizit verankert. Nebst den Lehrpersonen und den Eltern stehen die Berufsberater/innen auch heute unterstützend zur Seite. Das oberste Ziel der Berufswahl ist nach wie vor, eine passende Anschlusslösung nach der obligatorischen Schulzeit zu finden.

Wie ist die Aufgabenteilung zwischen Oberstufenlehrperson und Berufsberater/in bei der Berufswahl?

In der Schule eignen sich die Jugendlichen die nötigen Kompetenzen für die Berufswahl an. Sie setzen sich mit ihren eigenen Fähigkeiten und Stärken auseinander, sammeln Informationen über Berufe und weiterführende Schulen und lernen Bewerbungen zu schreiben. Weiter bereiten sie sich auf Schnupperlehren, Vorstellungsgespräche und auf den Übergang vor. Die Berufsberatung unterstützt die Jugendlichen ergänzend dazu, indem sie in den Berufsinformationszentren (BIZ) und auch online umfassende Informationen über die Berufs- und Schulwahl zur Verfügung stellen. Darüber hinaus profitieren die Jugendlichen auch von Einzelberatungen. Die Berufsberater/innen arbeiten eng mit den für die Berufswahl zuständigen Lehrpersonen zusammen.

Wie werden die Jugendlichen heute, nebst Schule und Berufsberatung darin unterstützt, den für sie passenden Beruf zu finden?

Die Unterstützung der Jugendlichen im Berufswahlprozess ist eine gemeinsame Aufgabe von Eltern, Schulen, kantonalen Berufsberatungen und der Wirtschaft. Deshalb ist es wichtig, dass die Prozesse dieser beteiligten Partner aufeinander abgestimmt sind. Diesem Umstand trägt das im November 2021 erlassene nationale «Commitment zu Berufswahlprozess und Lehrstellenbesetzung» Rechnung. Die Eltern sind hauptverantwortlich für den Berufswahlprozess ihrer Kinder und unterstützen und begleiten sie dabei. Die Branchen stellen Informationsmaterialien über die Berufe zur Verfügung, organisieren Info-Veranstaltungen und präsentieren die Berufe an Berufsausstellungen (z. B. FIUTSCHER). Viele Lehrbetriebe ermöglichen den Jugendlichen auch einoder mehrtägige Orientierungs-Schnupperlehren.

Was ist Sinn und Zweck der Schnupperlehren?

Sogenannte Orientierungs-Schnupperlehren dienen der Berufserkundung und können zwischen einem und mehreren Tagen dauern. Diese finden vorzugsweise während des achten Schuljahrs statt. Durch praktische Arbeit und eigenes Erleben können die Jugendlichen abklären, ob sie für den Beruf, der sie interessiert die erforderlichen Voraussetzungen mitbringen. Im Gegensatz dazu steht bei den Bewerbungs-Schnupperlehren die Rekrutierung eines Lernenden im Vordergrund und nicht das Erkunden eines Berufes. Bei der Orientierungs-Schnupperlehre steht der Beruf im Vordergrund, bei der Bewerbungs-Schnupperlehre der Betrieb. Für die Betriebe ist es im Voraus wichtig zu wissen, auf welche Art der Schnupperlehre sich ein Schüler oder eine Schülerin bewirbt oder anmeldet.

Worauf sollten die Betriebe bei den Schnupperlehren besonders achten?

Die Jugendlichen sollten ein möglichst abgerundetes und authentisches Bild des Berufs während der Orientierungs-Schnupperlehre erhalten. Es ist wichtig, dass der Betrieb sie berät, sie anleitet, geduldig auf sie eingeht und sie vor allem ermutigt, Fragen zu stellen. Die Arbeiten sollten ein möglichst reales Bild des Berufs aufzeigen und so gestaltet sein, dass die Jugendlichen diese selbstständig ausführen können. Während der ganzen Schnupperlehrzeit sollte der/die Berufsbildner/in für die Betreuung verantwortlich sein. Der Austausch mit den Lernenden im Betrieb ist für die Jugendlichen ebenfalls wertvoll. Am Ende der Orientierungs-Schnupperlehre sollte eine Schlussbesprechung durchgeführt werden. In dieser werden die gemachten Erfahrungen der Jugendlichen mittels eines Schnupperlehr-Tagebuchs festgehalten. Die Gesamtbewertung des Betriebs fliesst ebenfalls mit ein.

Was ist aus Ihrer Sicht das Wichtigste bei der Rekrutierung von Lernenden?

Während der Berufserkundung werden neben einem konkreten Wunschberuf auch mögliche Alternativen geklärt. Danach folgt die Suche eines passenden Lehrbetriebs. Die Lehrstellensuche und die Rekrutierung beginnen mit der Ausschreibung der offenen Lehrstellen, wie beispielsweise auf www. berufsberatung.ch, der kostenlosen Plattform der Kantone. Wichtig ist dabei, dass die Lehrstellen erst ab 1. August des Jahres vor Lehrbeginn veröffentlicht werden. Damit wird verhindert, dass die Jugendlichen – aber auch ihre Eltern – unter Druck geraten und den falschen Beruf oder den nicht am besten geeigneten Ausbildungsbetrieb auswählen. Der Rekrutierungsprozess soll gut geplant und seriös durchgeführt werden. Dies verhindert während der späteren Lehre oftmals Enttäuschungen aufseiten Lehrbetrieb und Jugendlichen. Zur Feststellung, ob ein/e Bewerber/in, ein Beruf und ein Lehrbetrieb zueinander passen, setzen viele Lehrbetriebe Bewerbungs-Schnupperlehren ein. Passen Bewerber/in und Lehrbetrieb zusammen, ist der Weg zum Lehrvertragsabschluss geebnet.

Was ist bei den Lehrverträgen zu beachten?

Die Lehrverträge für alle EFZ- und EBA-Ausbildungen sind vorgegeben. Die entsprechende Vorlage ist auf der Webseite des Kantons (www.berufsbildung.gr.ch) zu finden. Lehrbetriebe müssen über eine kantonale Bildungsbewilligung verfügen, um Lehrverträge abschliessen zu können. Alle Lehrverträge müssen vom Amt für Berufsbildung genehmigt werden. Diese sollen frühestens ein Jahr vor Lehrbeginn abgeschlossen werden. Der Kanton bewilligt die Lehrverträge frühestens am 1. September des Vorjahres. Zu früh abgeschlossene Lehrverträge können Jugendliche dazu verleiten, mit ihren Leistungen in der obligatorischen Schule nachzulassen. Dadurch besteht die Gefahr, dass die schulischen Anforderungen in der Berufsfachschule nicht erfüllt werden können. Der Lehrbetrieb kann von den künftigen Lernenden verlangen, dass die letzten beiden Semesterzeugnisse eingereicht werden, was dazu führen kann, dass die Schulleistungen weiterhin konstant bleiben.

Was ist der häufigste Grund für die Auflösung von Lehrverträgen?

Hauptgrund für Lehrvertragsauflösungen während des ersten Lehrjahrs ist in gut einem Drittel eine falsche Berufswahl. Bei rund 16 Prozent begründeten sich die Auflösungen in mangelnden Leistungen an mehreren Lernorten (Lehrbetrieb, Berufsfachschule, überbetriebliche Kurse). Auch im zweiten Lehrjahr werden noch 13 Prozent der Auflösungen der falschen Berufswahl zugeschrieben. Dies zeigt, dass eine gut fundierte Berufswahl ohne Druck für alle Beteiligten äusserst wichtig ist. Gemeinsame Grundsätze zu Berufswahl- und Rekrutierungsprozess von Lernenden ermöglichen eine sorgfältige, zeitlich gut abgestimmte Berufswahl im Interesse aller Beteiligten.

Amt für Berufsbildung

Das Amt für Berufsbildung setzt auf kantonaler Ebene die Berufsbildungserlasse von Bund und Kanton um. Es beaufsichtigt die Lehrverhältnisse, erteilt Ausbildungsbewilligungen und steht den Lehrvertragsparteien beratend zur Seite. Zudem stellt es den Berufsfachschulunterricht und dessen Finanzierung sicher und beteiligt sich an den Kosten der überbetrieblichen Kurse. Das Amt ist weiter verantwortlich für die Durchführung der Qualifikationsverfahren sowie für die Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung.

 

 

Weitere Informationen

Informationen zum Berufswahlprozess und zur Lehrstellenbesetzung sind zu finden auf: www.berufsberatung.ch und www.berufsbildung.gr.ch. Lehrbetriebe können ihre Lehrstellen und sich als Schnupperlehrbetriebe auf www.berufsberatung.ch ausschreiben. 

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