«Führen heisst Menschen verstehen»
06.02.2025

Die Unternehmensführung unterliegt dem Wandel der Zeit. Das Umfeld und die Themen verändern sich, die Kernaufgaben bleiben jedoch die gleichen. Wir haben mit Alois Vinzens, Verwaltungsrat in verschiedenen Bündner Unternehmen und ehemaliger CEO der GKB, über Unternehmensführung und die Rolle als Verwaltungsrat gesprochen.
Alois «Lissi» Vinzens ist eine der erfahrensten Bündner Führungspersönlichkeiten. Von 2003 bis 2019 war er CEO der Graubündner Kantonalbank. Aktuell ist er als Präsident oder Verwaltungsrat in verschiedenen Unternehmungen und unterschiedlichen Branchen tätig.
Alois Vinzens, wie hat sich die Unternehmensführung in Ihrem Berufsleben verändert?
Früher war die Unternehmensführung stark von Strukturen und Hierarchien geprägt. Kunden und Eigentümerinteressen standen im Vordergrund. Thematisch war die Unternehmensführung vor allem auf Vertrieb, Produktivität und Kontrolle ausgerichtet. Über die letzten Jahrzehnte sind neue Themen wie Technologieanwendung, Digitalisierung, Compliance und Nachhaltigkeitdazugekommen. Und der Kreis der Anspruchsgruppen, die bedient werden müssen, hat sich stark auch auf die Mitarbeitenden und teilweise auch auf die Öffentlichkeit ausgeweitet. Und in der Zukunft werden Kreativität, Arbeitsmodelle, Risikomanagement, Diversität und künstliche Intelligenz die Führung prägen. Führung ist partizipativer geworden, das heisst, die Mitarbeitenden werden stärker in die Führungsentscheide miteinbezogen. Letztendlich aber bleibt die nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung der Fokus jeder Unternehmensführung.
Was bedeutet dieser Wandel konkret für die Mitarbeitenden?
Der Umgang mit Menschen, mit Mitarbeitenden, Kunden und Lieferanten hat sich stark verändert. Mitarbeiterführung war früher stark geprägt von einer Kontroll- und Anordnungskultur. Arbeitszeiten, Prozesse, Innovation und Veränderung wurden weitgehend topdown bestimmt. Wir sind heute aber glücklicherweise in einer Welt angelangt, in der man erkannt hat, dass der Unternehmungserfolg positiv gestaltet werden kann, wenn die positiven Energien im Unternehmen auf allen Stufen gefördert und genutzt werden. Das ist nur möglich, wenn die Mitarbeitenden in die Strategiefindung und die operativen Entscheide miteinbezogen werden. Es geht darum, die Menschen besser zu verstehen, sie zu fördern, ihre Fähigkeiten zum Tragen zu bringen und sie zu Beteiligten zu machen. Aus Sicht der Führung sind deshalb vermehrt soziologische und psychologische Fähigkeiten gefragt. Diese Aspekte der Führung nehmen in der Forschung und Weiterbildung an Bedeutung zu. In einer komplexen Welt kann man nicht alles anordnen. Man muss die Mitarbeitenden befähigen, selbst Ideen und Lösungen zu entwickeln und so Probleme zu lösen.
Und was heisst dies für die Führungskräfte?
Wir kommen aus einer Welt, in der vorwiegend managementorientierte Ausbildungen, das heisst das Führungshandwerk, gefragt waren. Wie organisiere und führe ich Sitzungen, Projekte und Arbeitsabläufe, wie organisiere ich Informationssysteme und die finanzielle Berichterstattung, wie beurteile ich Leistungen, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Kompetenzen sind nach wie vor wichtig und gültig, reichen aber bei Weitem nicht mehr aus. Wie bereits erwähnt, ist moderne Führung beeinflusst von sozialen und psychologischen Kompetenzen. Der Mensch mit seiner ganzen Persönlichkeit steht im Mittelpunkt. Gute Führungskräfte profilieren sich als Coach und Diener am Mitarbeitenden und versuchen das Individuum Mensch im Rahmen des Führungsprozesses zu verstehen und einzuordnen. Man fördert, indem man Talente befähigt, an ihre eigenen Fähigkeiten zu glauben und sich kreativ in die Organisation einzubringen. Dazu braucht es den Austausch auf Augenhöhe. Mitarbeitende wollen diese Austauschkultur, sie wünschen sich aber auch Führung, das heisst, sie wollen eine Ansprechperson, welche ihnen Orientierung, Hilfe und Wertschätzung gibt.
Was heisst das konkret?
Konkret heisst das, dass die Art der Führung ein wichtiger Teil der Unternehmensstrategie sein muss, welche direkt die Kultur des Unternehmens beeinflusst. Die Mitarbeitenden sind in die Kulturgestaltung miteinzubeziehen. Nur so werden sie auch in der Lage sein, diese gegen innen und aussen zu repräsentieren. Als Kunde spüre ich doch sofort, ob eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter die Firma versteht und auch respektiert oder nur wegen des Lohns dort arbeitet. Damit der Einbezug gelingt, muss ein möglichst gutes Arbeitsumfeld geschaffen werden. So können die Mitarbeitenden performen und zum Erfolg des Unternehmens beitragen. Die Mitarbeiterorientierung in den Firmen wird weiter zunehmen. Ein Grund dafür sind auch die demografische Entwicklung und der Fachkräftemangel. Nicht zu vergessen sind die gesellschaftlichen Veränderungen mit all den sich ändernden Erwartungen.
Viele Mitarbeitende möchten aber nicht unbedingt jeden Tag Veränderungen?
Stimmt, Veränderungen sind oft unangenehm und machen Angst, weil sie uns zwingen, die Komfortzone zu verlassen. Deshalb ist es wichtig, möglichst viele Menschen in der Unternehmung in diese Prozesse einzubeziehen und sie zu Beteiligten zu machen. Letztendlich geht es darum, die richtige Dynamik zu erzeugen. Das Neue muss eine grosse positive Kraft erzeugen, welche die Mitarbeitenden anzieht wie ein Magnet. Nur so gelingt es, das Alte loszulassen.
Ein Unternehmen zu führen, ist heute also schwieriger geworden?
Ja, eine Unternehmung in einem sich immer schneller verändernden Umfeld zu führen, ist komplexer geworden. Es gilt gesellschaftliche, gesetzliche, geopolitische und technologische Entwicklungen zu erkennen und deren Chancen und Gefahren für das Unternehmen einzuordnen. Deshalb sind die Verfügbarkeit der relevanten Informationen und eine stetige Weiterbildung unerlässlich. Man muss sich mit der Welt als Ganzes befassen, auch wenn man ein KMU in Graubünden ist. Geopolitik hat Einfluss auf uns alle. Lieferkettenengpässe beispielsweise können uns alle betreffen.
Kleinere Unternehmen sind gegenüber den grösseren also benachteiligt?
Die Grösse hat Vor- und Nachteile. Grosse Unternehmen verfügen meistens über grössere finanzielle Ressourcen und häufig auch über eine grössere Wissensbasis und nationale bis internationale Reichweite. Kleinere Unternehmen auf der anderen Seite sind oft flexibler und aufgrund der kurzen Wege und schneller Entscheidungsprozesse oft flexibler und agiler. Generell haben Netzwerke an Bedeutung gewonnen. Vom gemeinsamen Wissensaufbau über betriebliche Kooperationen bis hin zu gesellschaftlichen Verknüpfungen gibt es verschiedene Arten von guter Zusammenarbeit. Auch Verbände können hier einen Beitrag leisten, indem sie Wissen bereitstellen und die Zusammenarbeit fördern.
Wo sehen Sie die grossen Herausforderungen für kleinere KMUs?
Die Herausforderung besteht darin, die bestehenden Geschäftsmodelle in einer sich verändernden Umwelt, welche von Fachkräftemangel, Regulierung, Nachhaltigkeitsthemen, geopolitischen Umwälzungen, Technologie und künstlicher Intelligenz beherrscht wird, anzupassen und in die nächste Geländekammer zu führen, um auch morgen erfolgreich operieren zu können. Ich kenne kein einziges Unternehmen, das nicht von Innovation betroffen ist. Gleichzeitig stehen in vielen KMUs auch Nachfolgeprobleme an, die rechtzeitig aufgegleist werden müssen. Das Ganze hat durchaus eine gewisse Komplexität, die gerade kleinere KMUs nicht ohne Weiteres aus eigener Kraft meistern können. Hier sind insbesondere auch die Verwaltungsräte gefordert, gemeinsam mit den Unternehmern und operativen Führungskräften für die richtigen Weichenstellungen zu sorgen. Besonders kleinere KMUs sollten sich überlegen, ihr Wissen und ihre Netzwerke mit der Berufung von unabhängigen Verwaltungsräten zu stärken.
Sie haben in den letzten Jahren viel Erfahrung als Verwaltungsrat gesammelt. Welche Rolle spielt der Verwaltungsrat in der Unternehmensführung?
Als oberstes Führungsorgan hat er eine zentrale Rolle und grosse Verantwortung. Grundsätzlich ist die Aufgabe und Verantwortung des Verwaltungsrates im Gesetz, ergänzend in den Statuten und im Organisationsreglement, geregelt. Der Verwaltungsrat hat überwachende Aufgaben, ist aber insbesondere, dies in enger Zusammenarbeit mit den operativen Führungskräften, auch für die strategische Ausrichtung des Unternehmens verantwortlich. Überwachungsaufgaben haben aufgrund von laufend neuen gesetzlichen Vorgaben massiv zugenommen. Gemeinsam mit der operativen Führung implementiert der Verwaltungsrat ein zweckmässiges Informations- und Kontrollsystem, welches die stufengerechte Steuerung und Überwachung der Unternehmung ermöglicht. Dabei ist es wichtig, die Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen zwischen der strategischen und operativen Unternehmungsführung klar zu regeln, um Führungskonflikte zu vermeiden.
Welche Kompetenzen braucht ein Verwaltungsrat?
Fachliche Kompetenz ist unverzichtbar, aber mindestens genauso wichtig sind Erfahrung und soziale und kommunikative Fähigkeiten und Netzwerke. Ein guter Verwaltungsrat muss in der Lage sein, konstruktive und kontroverse Diskussionen zu führen, er steht für seine Überzeugungen ein, sollte aber auch konsensfähig sein, und er respektiert die operative Führung. Letztendlich versteht er sich als Teil eines Teams, in dem unterschiedliche Kompetenzen zum Tragen kommen.
Gibt es den richtigen Zeitpunkt für den Wechsel in den Verwaltungsrat?
Verwaltungsräte/innen werden in der Tendenz jünger. Den richtigen Zeitpunkt gibt es wohl nicht. Ich selber bin mit Erreichen des 60. Altersjahrs als CEO der GKB zurückgetreten, um meine operativen Erfahrungen, mein Wissen und meine Netzwerke als professioneller Verwaltungsrat einbringen zu können. Nach 17 Jahren CEO wollte ich noch etwas Neues machen. VR sollte man aus Überzeugung werden. Bei der Auswahl meiner Mandate beurteile ich den Firmenzweck, die Aktionäre und die involvierten Menschen. Neben den Arbeitsstrukturen muss vor allem das Menschliche passen. Eine offene Diskussionskultur ist eine weitere Voraussetzung. Nur so kann ein Verwaltungsrat mithelfen, das Unternehmen besser zu machen und zum Erfolg beitragen. Bei einem inhabergeführten KMU stellt sich die Frage nach einem externen Verwaltungsrat.
Worauf ist dabei zu achten?
Ein Unternehmer oder eine Unternehmerin muss natürlich vom Mehrwert überzeugt sein, ansonsten bringt ein unabhängiger Verwaltungsrat nichts. Es stellt sich die Frage, in welchen Bereichen Unterstützung erwünscht ist. Geht es um das Einbringen von Wissen, um die Begleitung oder Suche einer Nachfolgelösung, oder geht es darum, sich neue Netzwerke zu erschliessen, um eine Änderung oder Ausweitung des Geschäftsmodells zu ermöglichen. Oft wünschen sich Unternehmerinnen und Unternehmer auch einfach nur einen Sparringpartner oder Impulsgeber. Erfahrene und engagierte Verwaltungsräte haben natürlich auch ihren Preis, welcher stark von der Aufgabenstellung, von der Grösse der Firma und von der Branche abhängig ist. Professionelle Verwaltungsräte erwarten, dass Risiko, Zeit und Erfahrung angemessen abgegolten werden. Auf der anderen Seite darf von Verwaltungsräten erwartet werden, dass sie sich engagiert einbringen und sich frei von Interessenskonflikten in den Dienst der Unternehmung stellen.